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Buchtipps von CHIRONDO

„Wie wir werden, die wir sind“

Ich sitze vor dem Supermarkt in meinem Auto und sehe den Leuten zu. Es ist kurz vor Weihnachten, aber dem Füllungsgrad der Taschen und Körbe folgend ist es kurz vor Weltuntergang.

Da hat sich die Kirche seit Jahrtausenden bemüht, uns als Belohnung für ein arbeitsames, sündenfreies Dasein das ewige Leben zu versprechen und die Menschen kaufen ein, als wäre das eigene UND das Dasein von Aldi, Lidl, Netto und Co. morgen beendet. Ich sehe den Menschen zu und frage mich, was mit den vielen Geschenken erreicht werden soll? Anerkennung? Gegenseitige Wertschätzung oder das Symbol für Verbundenheit? Durch Konsumgüter? Paradox.

Verbundenheit entsteht durch Konsistenz im Handeln und Ähnlichkeit – schreibt Daniel J. Siegel in seinem Buch: „Wie wir werden, die wir sind“.

Ein Buch, das mich seit langem begleitet, weil es sich so unglaublich immer und unglaublich langsam lesen lässt. Ein Buch, das mich in gleichem Ausmaß fasziniert wie auch bewegt hat. Ein Buch das für sich selbst den Anspruch hat „die Erkenntnisse verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen zusammenzufassen“. Ein Buch, das diesem Anspruch gerecht wird.

Erlebnisse formen den menschlichen Geist

Dabei startet der Autor riskant, um einen naturwissenschaftlichen Leser wie mich zu überzeugen: „Der Menschliche Geist manifestiert sich aus Mustern des Energie- und Informationsflusses“ lese ich während ich vor dem Geschäft im Auto warte. Aus meiner Perspektive manifestiert sich der menschliche Geist (zumindest der Geist der Weihnacht) in Schokoladenbergen, Bierkästen und Fleischpaketen. Der Geist der Weihnacht muss ein hungriger sein, denke ich noch so bei mir. Oder hat Verbundenheit irgendwas mit dem Sättigungsgrad zu tun? Ich blättere mich lesend weiter durch das Buch, welches das Thema Bindung zum zentralen Element menschlicher Entwicklung und vor allem geistiger Reife werden lässt.

Siegel gelingt es über eine sehr klare und praxisnahe Beschreibung zu vermitteln, wie Erlebnisse in unserem Umfeld nicht nur darüber bestimmen, WELCHE Informationen in unseren Geist gelangen sondern auch in welcher Art und Weise sich die Fähigkeit entwickelt, diese zu verarbeiten. Er lässt seine Leser tief ins Gehirn blicken und offenbart mit der Funktionsweise des Gehirns unser Sein, Erleben und Verstehen. Und das alles, ohne den Text mit den sonst für den Laien so schwer lesebaren Fachbegriffen zu überladen.

Die eigene Prägung erkennen

Meine Faszination und mein Abscheu, mit der ich die Konsumfreudigkeit meiner Umwelt betrachte, ist somit nicht nur mein aktueller Zustand, sondern verrät durch das Ausmaß meiner Empfindungen auch, wie sehr mich meine eigene Teilnahme an diesem Handeln in der Vergangenheit geprägt hat. Und wie diese Prägung mich JETZT in den Zustand versetzt, so zu empfinden. Und ja, auch ich habe in den letzten Jahren in Sandalen und T-Shirt schon im September die Lebkuchen gekauft, in der Erkenntnis: „Bald gibt es die nicht mehr!“.

Doch Siegel geht noch ein großes Stück über diese nicht außergewöhnliche Feststellung hinaus. Für ihn ist die „…Stärke der Erinnerung vom Grad der emotionalen Aktivierung abhängig und ein Trauma kann eine physiologische Narbe im Gehirngewebe hinterlassen und damit die Konnektivität und Funktionalität der Hirnregion maßgeblich einschränken.“

Damit geht der Autor in erheblichem Maße über die bisherigen Grenzen zwischen Psychologie und Physiologie hinweg. Wenn Gedanken meine pathologischen Gehirnstrukturen formen, ist dann ein skurriles Verhalten Ausdruck von unwiderruflichen Fehlformungen? Erschreckt sehe ich die Menschen in meinem Umfeld an. Weihnachten ist an einem Mittwoch. Das bedeute nach Adam Riese eine „Versorgungslücke von 2 Tagen“. Der Mensch kann bis zu 6 Wochen ohne Nahrung auskommen. Wieso plündern die Menschen dann hier den Supermarkt. Sind alle krank?

Bindung und Verbundenheitserleben machen Menschen stark

Es ist die Suche nach dem Besonderen. Der Wunsch, die Bindung zu einem Menschen durch das Besondere auszudrücken. Ein besonderes Geschenk, ein besonderes Essen, besonders viel von allem. Bindung ist ein mentaler Zustand, der die Formung von Hirnstrukturen maßgeblich beeinflusst. Der Autor zeigt an eindringlichen und klaren Beispielen auf, welche Bindungsstile sich ergeben und wie diese Bindungsstile sowohl die Hirnorganik formen als auch diese in einer Endlosschleife genau dieses Verhalten wiederum befördern.

Lächelnd lese ich, wie Kinder bei der Abwesenheit ihrer Bezugsperson reagieren und damit ihre Ansprüche an Bindung mit ihrer eigenen Sicherheit/Unsicherheit abgleichen. Lächelnd denke ich an die letzte Diskussion mit meiner Freundin zurück, in der ich sie darum bat, ihr Handy doch bitte häufiger mitzunehmen – jetzt wohlweislich in der Erkenntnis, dass es mir dabei nicht um ihre Sicherheit, sondern um mein ganz eigenes Wohlempfinden ging.

Ich sehe auf und sehe in die Gesichter der glücklichen Schokoladenberg- und Fleischpastetenbesitzer vor dem Laden. Niemand von denen hat etwas Besonderes erstanden – und doch haben alle die Sicherheit, ihr Bestes für das Weihnachtsfest gegeben zu haben.

Konsistentes Verhalten erzeugt Sicherheit

Weil Sie eingekauft haben – wie immer. Denn dem Autor folgend ist die Kontinuität und die Konsistenz im Verhalten genau das, was uns Sicherheit gibt. Genau die Sicherheit, die wir benötigen, um eigenes Handeln dem antizipierten Zustand anzupassen. Je besser das gelingt, umso stabiler bilden sich genau die Hirnstrukturen aus, die dafür sorgen, dass „wir werden, die wir sind!“. In uns ruhend, konsistent handelnd und vorhersehbar im Verhalten für Andere.

Ich hadere mit mir und der Einkaufsliste in meiner Hand. Dann starte ich den Wagen. Und erlaube mir das Besondere – auf den Einkauf zu verzichten und mir so neue Erlebnisse und Gedächtnismuster zu schaffen. So wird dank Daniel J. Siegel mein Weihnachten eine Zeit der Re-Sinnung, weil ich meine SINNE schärfe und mich darauf konzentriere, was mir wichtig ist.

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    Über Doreen Beier

    Die Menschen- und Pferdekennerin coacht mit ihren Pferden Führungskräfte aus ganz Deutschland. Ihr Buch „Überholen mit 1 PS – Wie Manager von Pferden lernen“ erzählt amüsant und selbstkritisch zugleich die Geschichte von CHIRONDO, erläutert psychologisches Basiswissen und liefert detaillierte Beschreibungen der Trainingsmethoden. Als Blog-Autor schreibt sie zu Führungsthemen, gibt Einblicke in die CHIRONDO Welt und stellt ihre Vision des modernen Führungskräfte-Trainings vor.
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    Autor: Doreen Beier am 22. Dez 2014 11:11, Rubrik: Buchtipps von CHIRONDO, Literatur / Buchtipps, Kommentare per Feed RSS 2.0, Kommentare geschlossen.

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